C. Moos (Hrsg.): (K)ein Austrofaschismus?

Cover
Titel
(K)ein Austrofaschismus?. Studien zum Herrschaftssystem 1933–1938


Herausgeber
Moos, Carlo
Erschienen
Münster 2021: LIT Verlag
Anzahl Seiten
524 S.
Preis
€ 30,64
von
Georg Spitaler, Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung

Bei Tagungen, die die Jahre 1933 bis 1938 in Österreich behandeln, lässt sich bis heute ein auffälliges Phänomen beobachten: Für das autoritäre Regime, das nach der Ausschaltung des Parlaments im März 1933 bis zum «Anschluss» Österreichs an das Deutsche Reich 1938 bestand, werden unterschiedlichste Begriffe verwendet: in den letzten Jahren oft «Dollfuß/Schuschnigg-Regime» – nach den beiden christlichsozialen Kanzlern Engelbert Dollfuß (im Juli 1934 beim Putschversuch der Nationalsozialisten ermordet) und seinem Nachfolger Kurt Schuschnigg –, «Kanzlerdiktatur», was die Rolle von Dollfuß bei der Eroberung der Staatsmacht sowie jene der beiden Kanzler im institutionellen Gefüge des Regimes bis 1938 betont, «Ständestaat» – eine der Selbstbezeichnungen des Regimes, wobei mit einem «sogenannt» oft auf den Unterschied zur politischen Wirklichkeit hingewiesen wird – sowie «Austrofaschismus», als Begrifflichkeit, die die Anlehnung des Regimes an faschistische Vorbilder wie Italien hervorhebt. Die Vielfalt der Begriffe zeigt, dass in der österreichischen Geschichtswissenschaft keineswegs Einigkeit über die Einordnung der Jahre 1933–1938 besteht.1

Carlo Moos, emeritierter Professor für Neuere Allgemeine und Schweizer Geschichte an der Universität Zürich, selbst Experte für den italienischen Faschismus, hat sich als Herausgeber die Aufgabe gestellt, jenseits polemischer Debatten und mit einem frischen Blick von aussen nach gemeinsamen Positionen zu suchen. Das Buch versammelt Texte von 26 Autoren und 7 Autorinnen aus Geschichts-, Politik- und Kulturwissenschaft, umfasst Originalbeiträge, Wieder- und Teilabdrucke, es «umkreist» die Frage nach der Einordnung der Jahre 1933–1938, so der Herausgeber (S. ix), der die Beiträge entlang eines Kontinuums zwischen den beiden Positionen «Austrofaschismus» vs. ‹nur› ein autoritäres Regime geordnet hat. Insgesamt ergibt dies ein sehr anregendes Lesebuch, das die Begriffsdiskussionen anhand thematischer Fallstudien zu unterschiedlichen Feldern von Politik und Gesellschaft vertieft. Ein informativer Beitrag von Christian Koller beschreibt den zeitgenössischen Blick aus der Schweiz auf die autoritäre Wende im Nachbarland Österreich, und die Rolle, die dieses – je nach politischer Ausrichtung abschreckende oder anziehende – Beispiel ab den 1930er Jahren für Debatten über Korporatismus und «Ständestaat» spielte.

Der Begriff des Austrofaschismus wurde bereits zu dieser Zeit geprägt: Er diente vor allem in den Faschismusdiskussionen des Austromarxismus als Kampfbegriff und als analytische Kategorie.2 Der Faschismusbegriff wurde auch von Fraktionen des Regimes immer wieder verwendet. Erst nach 1945 wurde er in den erinnerungspolitischen Diskussionen für das konservative Lager in Österreich insofern toxisch, als er das autoritäre Regime der Jahre 1933–1938 in eine politische Familie mit dem italienischen und deutschen Faschismus stellte (S. 66). Anders als beim Nationalsozialismus, der im Zuge der österreichischen Opferthese lange externalisiert wurde, wies der Begriff den Proponenten des Regimes damit einen Anteil an einem «eigenen Fundamental-Bösen» zu – so Moos (S. 493). Im konservativen Narrativ war Kanzler Dollfuß demgegenüber ein Kämpfer für die Eigenständigkeit Österreichs und ein Opfer des Nationalsozialismus, sein Porträtbild hing bis 2017 im Parlamentsklub der Österreichischen Volkspartei (ÖVP), bevor es ins Niederösterreichische Haus der Geschichte transferiert wurde (S. 178).

Nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit klassischen internationalen Faschismustheorien – etwa den Arbeiten von Robert O. Paxton (im Buch mit einem Beitrag vertreten) –1 entwickeln die Autor:innen ihre jeweiligen Positionen: Der Politologe Emmerich Tálos, der mit seinen Publikationen seit den 1980er Jahren die Theoretisierung des Austrofaschismus vorangetrieben hat, aber auch jüngere Vertreter:innen einer kritischen Zeitgeschichte wie Lucille Dreidemy und Florian Wenninger plädieren für die Verwendung dieses Begriffs, um Ideologie und Praxis, Anspruch und Wirklichkeit des Regimes in den Blick zu nehmen. Nach der Ausschaltung des Parlaments, der Niederschlagung des Arbeiter:innenaufstands im Februar 1934 und des nationalsozialistischen Putschversuchs im Juli desselben Jahres, des Verbots der Oppositionsparteien und der Einführung einer neuen Verfassung im Mai 1934 sei das Regime, zumindest seinem Anspruch nach, als faschistisch zu charakterisieren gewesen, als Versuch einer antimarxistischen Krisenpolitik und kleinstaatlichen Faschisierung «von oben» (S. 71, 89), auch wenn seine Protagonisten, mit Ausnahme der Heimwehren, die sich explizit am italienischen Vorbild orientierten, den Begriff nicht immer verwendeten. Andere Autor:innen betonen dagegen die Unterschiede zwischen dem heterogenen und widersprüchlichen österreichischen Regime (S. 205) und dem italienischen Faschismus – ganz zu schweigen vom Nationalsozialismus – sowohl was die Dimension des politischen Terrors, die zwiespältige Rolle des politischen Antisemitismus, die fehlende Massenbasis – ausserhalb bisheriger Kernwählerschichten der Christlichsozialen und ihrer politischen Verbündeten –, das Fehlen einer expansionistischen nationalen Ideologie, eines revolutionären Anspruchs und nicht zuletzt die fehlende Rolle der Staatspartei «Vaterländische Front» als Motor der Faschisierung betrifft. Die politische Macht, so Helmut Wohnout – Schöpfer des Begriffs der «Kanzlerdiktatur» – sei bei den traditionellen politischen und wirtschaftlichen Eliten verblieben (S. 312–314). Die Katholische Kirche bildete einen wichtigen Einflussfaktor, autoritäre Regierungstechniken wie das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz waren aus dem Instrumentarium der Habsburgermonarchie übernommen.

In seinem Schlusswort hebt der Herausgeber die Stärken der jeweiligen Argumente hervor und plädiert dafür, den Begriff des Austrofaschismus, so man ihn verwendet (und der Rezensent tut dies), als geografische Bezeichnung für das Regime – in all seinen Widersprüchen – zu verstehen, als «hybrides und national unterschiedlich ausgeprägtes Phänomen» (S. 499 f.). Moos regt aber auch an, den Fokus vom Begriffskonflikt auf die Frage zu verschieben, «wie Demokratien enden können» (S. 489). Die Rechtshistorikerin Ilse Reiter-Zatloukal spricht vom Regime als «Nicht-Rechtsstaat» (S. 245). Dies verleiht dem Band einiges an Aktualität, denkt man an den derzeitigen Aufstieg des autoritären Populismus in Europa und den USA. So wiegt es schwerer, wenn der österreichische Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) 2022 die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention in Frage stellt, um den Zuzug von «Migranten» zu stoppen, als dass er als Bürgermeister seiner Heimatgemeinde für ein fragwürdiges Dollfuß-Museum, das den dort geborenen Politiker ehrt, Verantwortung trug.

Anmerkung:
1 Klassische Beiträge zur Diskussion finden sich u. a. in Emmerich Tálos, Wolfgang Neugebauer (Hg.), Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur 1933–1938, 5. Aufl., Wien 2005 (Politik und Zeitgeschichte 1); Emmerich Tálos, Das austrofaschistische Herrschaftssystem. Österreich 1933–1938, Wien 2013 (Politik und Zeitgeschichte 8); Emmerich Tálos unter Mitarbeit von Florian Wenninger, Das austrofaschistische Österreich 1933–1938, Wien 2017 (Politik und Zeitgeschichte 10); Florian Wenninger, Lucille Dreidemy (Hg.), Das Dollfuss/Schuschnigg-Regime 1933–1938. Vermessung eines Forschungsfeldes, Wien 2013; Ilse Reiter-Zatloukal, Christiane Rothländer, Pia Schölnberger (Hg.), Österreich 1933–1938. Interdisziplinäre Annäherungen an das Dollfuß-/Schuschnigg-Regime, Wien 2012.
2 Der sozialdemokratische Parteitheoretiker Otto Bauer schrieb 1938 rückblickend vom «Halbfaschismus» in Österreich (S. 323), Otto Leichter im Jahr darauf polemisch von einem Regime, das aufgrund fehlender Massenbasis «Polizei- und Militärdiktatur» geblieben sei. Vgl. Wolfgang Maderthaner, Michaela Maier, Georg Spitaler: Einführung: Zur Aktualität austromarxistischer Faschismustheorien, in: VGA Dokumentation, 1–4 (2019), S. 3–9.
[3] Robert O. Paxton, Anatomie des Faschismus, München 2006.

Zitierweise:
Spitaler, Georg: Rezension zu: Moos, Carlo Moos (Hg.): (K)ein Austrofaschismus? Studien zum Herrschaftssystem 1933–1938, Wien 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(1), 2023, S. 81-83. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00120>.

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